15.
Julia stand immer noch unter Schock und die schlechte Stimmung im Haus schlug ihr zusätzlich auf den Magen. Noch am Morgen hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie Ada das Malheur mit der abgebrochenen Fensterkurbel beibringen sollte. Und nun stand der geliebte Kombi ihrer Granny als schwarzes Wrack auf dem Schrottplatz.
Julia legte sich auf ihr Bett im Trailer und hörte Musik über ihren MP3-Player. Ville Valo sang Join me, aber in Gedanken war sie nicht bei dem finnischen Sänger, sondern bei Simon.
Bestimmt fühlte er sich furchtbar schuldig.
Es war unfair, wie Ada Simon behandelte. Er mühte sich so sehr, ihrer Großmutter alles recht zu machen. Obwohl er erst siebzehn war, trug er einen riesigen Berg Verantwortung und beklagte sich nie.
Julias tägliche Pflichten zu Hause bestanden darin, das Geschirr aus der Spülmaschine zu holen, den Mülleimer rauszutragen, einzukaufen und ab und zu ihr Zimmer zu putzen. Wie verschieden ihr Leben von Simons Leben war. Abgesehen von seinem Bedürfnis nach Einsamkeit, schien er keine Wünsche zu haben. Sie fragte sich, was er sich für sein Leben vorstellte. Der Job auf der Ranch konnte unmöglich die Erfüllung seiner Träume sein.
Als Ville Valo zwischen zwei Liedern schwieg, hörte Julia, dass jemand an die Tür des Trailers klopfte und ihren Namen rief. Sie zog die Kopfhörer heraus und sprang aus dem Bett.
»Julia!« Lautes Klopfen. »Ich bin’s. M-ach auf!«
Erschrocken griff sie nach der Stabtaschenlampe, lief zur Tür und löste den Draht. Simon musterte Julias mit Smileys bedrucktes Nachthemd, dann schob er sie sanft, aber bestimmt nach drinnen.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Ist schon wieder was passiert?«
»Jason ist auf der Ranch.«
Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Na und? Seine Großeltern leben hier.«
»Ich m-ach mir Sorgen, dass er etwas im Schilde führt. Es wäre mir lieber, du schläfst im Ranchhaus.«
Nun fing Simon auch noch damit an! Julia dachte an den Geruch von Zigarettenqualm im Haus, die Ausdünstungen von Tommys Windeln, sein nächtliches Toben und Schreien. »Ich kann da nicht schlafen.«
Simon schien einen Moment nachzudenken. »Dann bleibe ich eben hier.«
»Hier?«
Er schaute gekränkt. »Ich schlafe auch vor deiner Tür, wenn du mir nicht vertraust.«
Das klang nicht so, als ob er noch irgendwie davon abzubringen war. Trotzdem sagte Julia: »Ich glaube kaum, dass das nötig ist. Ja-son kann zwar meine Mutter nicht leiden, aber mit mir hat er keine Probleme.«
»Darum g-g-geht es doch gar nicht.«
»Worum dann?« Julia sah Simon fragend an. Er hatte Schatten unter den Augen und es gab etwas, das ihn ernsthaft zu bedrücken schien.
»Du kennst Jason überhaupt nicht.«
Wieder musterte sie ihn aufmerksam. »Du weißt etwas über meinen Bruder, nicht wahr? Was ist es, Simon?«
»Na ja. Er versorgt eine Menge L-eute im Ort mit Drogen.«
»Jason?«
»Hast du hier n-och mehr Brüder?« Simon verdrehte die Augen und seufzte. »Crack, Crystal-Meth, Dope, alles, was das Herz begehrt. Er verdient g-g-ganz gut daran.«
»Weiß meine Großmutter davon?«
Simon nickte. »Sie kriegt alles mit. Auch wenn sie sich das nicht anmerken lässt.«
»Wenn sie es weiß, warum unternimmt sie dann nichts?«
»Keine Ahnung. Frag sie selbst.«
Julia rieb sich die Arme, nicht weil ihr kalt war, sondern vor Verlegenheit. Simons Besorgnis schien echt zu sein und sie gab nach. »Na gut. Du kannst auf der Couch schlafen. Das Bettzeug von meiner Mutter liegt noch da.«
Simon verschloss die Tür mit dem Draht – eine leichte Übung für ihn.
»Hat Jason etwas zu dir gesagt?«, fragte Julia.
»Nein. Ich denke, er hat vom ausgebrannten K-K-Kombi erfahren und will wissen, was los ist.«
Julia setzte sich in den Sessel und zog das Nachthemd über ihre Knie. »Es tut mir so leid, Simon«, sagte sie. »Das Ganze war einfach schrecklich.«
»Na, es war ja nicht deine Schuld.«
»Aber deine war es auch nicht und du bekommst nun den ganzen Ärger ab. Warum hast du nicht gesagt, dass ich gefahren bin?«
»Weil du k-einen Führerschein hast.«
»Lass mich wenigstens deinen Strafzettel bezahlen.«
»Das hat dein Grandpa schon getan.«
Julia blickte auf, Tränen liefen über ihre Wangen.
»N-icht weinen, okay?«, sagte er hastig. »Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Manchmal nimmt Ada Tommy mit nach Eldora Valley. Sie hätte es vielleicht nicht rechtzeitig geschafft, ihn aus dem brennenden Auto zu holen.«
Diese Möglichkeit war Julia überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Nachdenklich sah sie Simon an. Immer dachte er an andere und nie an sich.
Sie entschuldigte sich dafür, dass sie im Waschsalon so ungehalten gewesen war. »Du hast nichts falsch gemacht«, sagte sie. »Nur dass . . . mein Pa hat mich immer Vogelmädchen genannt.«
»Das konnte ich nicht wissen.«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Nein, das konntest du nicht.«
Am darauffolgenden Tag waren Simon und der alte Mann damit beschäftigt, am äußersten Ende der Ranch Gräben zu ziehen. Julia stromerte auf der Ranch umher, um dem Groll ihrer Großmutter aus dem Weg zu gehen. Erst zum Abendessen sah sie Simon wieder. Er war so erschöpft, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte und beinahe über seinem Teller einschlief. Trotzdem kam er zu ihr, um ihr zu helfen, als ihre Großeltern vor dem Fernseher saßen und sie in der Küche Ordnung schaffte.
»Ich schaffe das schon allein«, sagte sie. »Du musst mir nicht helfen.«
»Okay, dann: Gute Nacht!«
Er wollte gehen, aber Julia hielt ihm am Arm fest und flüsterte: »Hast du herausgefunden, was Jason gestern Nacht hier wollte?«
»Nein. Aber er m-uss ziemlich überrascht gewesen sein, dass du nicht mit deiner Mutter abgereist bist.«
Als Julia im Bett lag, ertappte sie sich dabei, wie sie nach draußen lauschte, weil sie fürchtete, ein Motorengeräusch zu hören. Simon hatte ihr Angst eingejagt. Dabei war sie überzeugt davon, dass sie nichts zu befürchten hatte. Jason hatte sich ihr gegenüber immer freundlich verhalten. Es war einfach lächerlich, vor dem eigenen Bruder Angst zu haben.
Trotzdem wünschte sie, Simon würde auf der Couch in der Küche liegen und ihren Schlaf bewachen.
Schon vor einigen Wochen hatte sich auf der Ranch Besuch angekündigt. Ein Fernsehsender wollte in einer Dokumentation über Amerikas Ureinwohner auch über das Ehepaar Temoke und seinen Kampf gegen die Columbus-Goldmine und das BLM berichten.
Ada mochte Fernsehleute genauso wenig, wie sie Zeitungsreporter oder Leute von der Regierung leiden konnte. Aber die Dokumentation war wichtig und eine gute Möglichkeit, auf die Probleme der Western Shoshone aufmerksam zu machen. Deshalb hatte Julias Großmutter damals dem Besuch des Fernsehteams auf der Ranch zugestimmt.
Die Reporter hatten sich für die Mittagszeit angekündigt und Adas Laune war noch miserabler als am Tag zuvor. Den ganzen Morgen wetterte sie herum und trug eine griesgrämige Miene zur Schau.
Julia und Simon waren froh, dass sie das Haus verlassen konnten, um Pipsqueak und die Kühe zu füttern. Als sie zurückkamen, verkündete Boyd auf einmal, dass er einen Termin beim Augenarzt in Elko hätte, einer größeren Stadt, zwei Stunden Autofahrt von der Ranch entfernt.
»K-ommst du mit?«, fragte Simon.
»Okay. Ich ziehe mich nur schnell um.« Julia hatte keine Lust, mit ihrer griesgrämigen Großmutter allein auf der Ranch zu bleiben.
Sie flitzte zum Trailer, breitete ihre Sachen auf dem Bett aus und überlegte, was sie anziehen sollte. Nach einer Woche in Hosen verspürte sie Lust auf Abwechslung und entschied sich für ein meergrünes Top und den kurzen Jeansrock, den sie zu ihrem fünfzehnten Geburtstag von ihrer Mutter bekommen hatte. Ihrem Vater war er zu kurz gewesen, aber Hanna hatte nur gelacht. So etwas würden Mädchen in Julias Alter nun mal tragen.
Simon hupte vor dem Trailer. Julia schnappte ihren kleinen Rucksack und eilte nach draußen. Ihr Großvater ließ sie auf die Sitzbank klettern und setzte sich neben sie.
»Ich dachte, wir fahren nach Elko und nicht nach Las Vegas«, brummte er kopfschüttelnd.
Simon warf einen kurzen Blick auf Julias nackte braune Beine und grinste, als er losfuhr. Er fand einen Oldiesender und pfiff zu den Hits der Stones, von Neil Young, den Beatles oder Joe Cocker. Manchmal fragte der alte Mann etwas und Simon brüllte die Antwort.
Julia stellte fest, dass jemand den Truck notdürftig sauber gemacht hatte. Die Sitzbank war abgewischt und der Müll entfernt worden. Allerdings war alles schon wieder staubig, als die Schotterpiste kurz vor Eldora Valley in eine Asphaltstraße überging.
In der Stadt brachten sie Boyd zum Augenarzt und während sie warten mussten, führte Simon Julia in seinen Lieblingsbuchladen.
Dass sie overdressed war für eine Stadt wie Elko, hatte sie schon vor einer Weile begriffen, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Jeder hier, Männer wie Frauen, trug Shorts und das obligatorische T-Shirt dazu. Da fiel Julia natürlich auf in ihrem kurzen Rock. Junge Männer drehten sich nach ihr um, Mädchen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Simon war die Aufmerksamkeit, die sie auf sich und damit auch auf ihn zog, sichtlich unangenehm. Er lief voran und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich immer mehr. Sein Gang war unsicher, er lief nach vorn gebeugt, die Schultern eingezogen.
Endlich erreichten sie den Buchladen und Simon verschwand darin wie in einer rettenden Höhle. Er schlich zwischen den Regalreihen entlang, den Kopf schief gelegt, um die Namen der Schriftsteller und die Buchtitel lesen zu können.
Es gab gebrauchte Bücher, die nur ein oder zwei Dollar kosteten, und wenn man genau hinsah, fand sich auch mal eine literarische Rarität in den Regalreihen. Julia amüsierte sich über die amerikanischen Cover, denn selbst angesehene Autoren kamen im Glitzereinband mit Prägeschrift daher.
Simon stöberte einen Gedichtband von Alice Walker auf und eine gut erhaltene Ausgabe von Pu der Bär.
Als er die beiden Bücher bezahlen wollte, fragte ihn die Verkäuferin mit dem falschen blonden Haarnest auf dem Kopf: »Du hast wohl diesmal deine Schwester mitgebracht, junger Mann?«
»N-N-Nein . . .«, er stöhnte leise, weil sie ihn mit ihrer blöden Frage überrumpelt hatte und sich die Worte wieder mal in seiner Kehle querstellten.
»Wir sind verlobt«, sagte Julia und legte kichernd einen Arm um Simons Hüfte. »Nicht wahr, Schatz?«
Er schluckte und brachte kein Wort heraus.
»Oh, wie schön«, meinte die Blonde entzückt.
Simon traten Schweißperlen auf die Stirn, während er einen Fünf-Dollar-Schein hervorkramte, um seine Bücher zu bezahlen.
»Was für ein hübsches Paar!«, hörte Julia die eine Verkäuferin zur anderen sagen, als sie den Buchladen verließen.
Draußen legte Julia den Kopf in den Nacken und schüttelte sich vor Lachen. Sie lachte mit dem ganzen Körper, bis sie keine Luft mehr bekam. Erst als sie merkte, dass Simon nicht lachte, hörte sie auf und sah ihn erschrocken an. »Verstehst du gar keinen Spaß, Simon?«
Er zuckte missmutig mit den Achseln. Dann wandte er sich um und lief über die Straße, wo der Pick-up geparkt war und der alte Mann bereits auf sie wartete.
Ihr Mittagessen kauften sie bei McDonald’s und aßen es auf einer Bank im Park, wo es im Schatten der Bäume angenehm kühl war. Anschließend fuhren sie zu einem riesigen Supermarkt am Stadtrand, um Adas Einkaufsliste abzuarbeiten.
Der alte Mann blieb beim Auto, um zu rauchen. Simon schob den großen Einkaufswagen zielsicher durch die Regalreihen des Supermarktes. Er wusste genau, wo alles stand und was Ada wollte.
Simon war immer noch verstimmt wegen des Scherzes, den Julia im Buchladen gemacht hatte. Und noch mehr wurmte ihn ihre Frage, ob er keinen Spaß verstehen würde. Das Schlimme daran war, dass es eben nur Spaß war. Für sie war es Spaß. Für ihn nicht. Ihm war beinahe das Herz stehen geblieben, als sie ihren Arm um ihn gelegt hatte. Einfach so. Sie hatte das getan, wovon er seit Tagen träumte. Doch die Art, wie sie es getan hatte, hatte ihn verletzt und nicht glücklich gemacht.
Simon wusste, dass er sich lächerlich benahm, denn Julia konnte schließlich nicht ahnen, wie es um ihn stand. Aber er konnte auch nicht aus seiner Haut. Erst als er Julia mit ihren nackten Armen und Beinen vor dem riesigen Kühlregal stehen sah, zähneklappernd und am ganzen Körper schlotternd, da tat sie ihm auf einmal leid. Er zog sein kariertes Hemd aus und legte es um ihre Schultern.
»Hier, zieh das an.«
»Aber . . .«
»Nun m-ach schon.«
Sie kroch eilig in das Hemd und verschränkte die Arme vor der Brust. »Danke.«
»Schon gut.«
Für Tommy mussten sie Milch kaufen und zwei Kartons mit Babynahrung. Simon stellte zusammen, was Tommy am liebsten mochte: Bananenbrei und Apfelmus. Kartoffeln mit Möhren oder Erbsen. Julia kniete neben ihm und verstaute die Gläschen in einer Pappkiste. Die Ärmel seines Hemdes waren zu lang für ihre Arme und ihre braunen Hände verschwanden immer wieder darin. Da musste er gegen seinen Willen schmunzeln.
»Du lächelst ja«, sagte sie. »Mach ich was falsch?«
Er hob eine volle Kiste in den Einkaufswagen und sah sie an.
»Immer noch böse?«, fragte sie.
Simon bückte sich nach der zweiten Kiste. Eine Antwort gab er ihr nicht. Sie brauchte schließlich nicht zu wissen, dass er ihr gar nicht richtig böse sein konnte.
An der Kasse packte eine junge Frau in Julias Alter alles in Plastiktüten. Simon zahlte und brachte die Sachen zum Truck, wo er sie auf der Ladefläche verstaute.
Während der Fahrt auf dem Highway verschwand die Sonne und über den Bergen im Osten brauten sich finstere Gewitterwolken zusammen, so wie jeden Nachmittag. Seit drei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Land und Tiere brauchten den Regen dringend.
Ein mächtiger Blitz zuckte über den Himmel und Julia zeigte auf die schwarzen Gewitterwolken. »Habt ihr das gesehen?«
Der Großvater griff nach ihrer Hand. »Nicht drauf zeigen«, sagte er. »Das sind mächtige Geister, die mögen das nicht.«
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Julia, wie Simon in sich hineingrinste.
Das Gewitter hatte sich verzogen, ohne dass auf der Ranch ein Tropfen gefallen wäre. Die unbefestigte Piste war staubig wie die Tage zuvor.
Simon parkte den alten Truck zwischen einem blauen Jeep und einem kirschroten Van. Die Fernsehleute waren also noch da.
Der alte Mann verzog sich gleich in seinen Schuppen, ohne das Haus überhaupt betreten zu haben. Simon und Julia trugen die Lebensmittel in die Küche und verstauten sie im Kühlschrank und in den Regalen.
Ada saß mit einem weißbärtigen Mann am Küchentisch und zeigte Fotos in einem Familienalbum. Ein jüngerer Mann mit Halbglatze stand hinter der Kamera und filmte. Ein riesiges Mikrofon, das aussah wie das Bein eines Plüschteddys, war auf Adas ledernes Gesicht gerichtet.
Julia war völlig verblüfft. Ihre Großmutter schien plötzlich ein anderer Mensch zu sein. Bereitwillig beantwortete sie die Fragen der Männer und lachte herzlich, wenn sie Scherze machten.
Simon verschwand schneller wieder aus der Küche, als Julia ihm hinterhersehen konnte. Sie stand noch eine Weile schweigend an die Spüle gelehnt, dann hatte sie das Gefühl zu stören und verließ das Haus ebenfalls.
Sie ging in ihren Trailer, legte sich aufs Bett und las in Winnie Pu und seine Freunde. Als sie ein Fahrzeug davonfahren hörte, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Endlich verließ der rote Van der Filmleute die Ranch.
Julia machte sich gleich auf den Weg zurück ins Haus, denn diesmal wollte sie das Abendessen kochen, aus frischem Gemüse und nicht aus der Dose, wie Ada es meist zu tun pflegte, obwohl sie einen Gemüsegarten hatte.
Verwundert stelle Julia fest, dass der blaue Jeep noch da stand. In der Küche fand sie eine beängstigend gut gelaunte Großmutter vor.
»Ich werde heute kochen«, sagte sie.
»Sehr gut«, bemerkte Ada.
»Bleiben die Filmleute zum Essen?«
»Die sind weg.«
»Und der Jeep?«
»Gehört mir.« Demonstrativ hielt sie die Autoschlüssel in die Höhe.
»Sie haben den ausgebrannten Kombi gesehen und mich gefragt, was passiert ist. Es war ihre Idee, mir den Jeep zu überlassen.«
Während Julia Gemüse für ihren Auflauf putzte und schnippelte, dachte sie darüber nach, dass so etwas wohl nur in Amerika passieren konnte: Von einer Minute auf die andere ein Auto geschenkt zu bekommen. Ada hatte das Geschenk der Fernsehleute ganz selbstverständlich angenommen. Wahrscheinlich war das ihre Devise: Das Leben teilt aus und es steckt ein. Ada hatte ihren Kombi zwar geliebt, aber der Jeep war neueren Baujahrs und hatte eine Klimaanlage. Wie dem auch sei, urplötzlich war der Frieden auf der Ranch wiederhergestellt.
Schon bald zog ein köstlicher Duft durch Küche und Wohnzimmer und Julia deckte den Tisch, damit sie gemeinsam essen konnten. Das war zwar nicht üblich in diesem Haus, aber sie versuchte es dennoch.
Der Auflauf sah perfekt aus, als sie ihn aus dem Backofen holte. Julia freute sich, dass er in Adas altem Gasherd so gut gelungen war. Aber Simon, der sonst immer pünktlich zum Essen erschien, kam nicht zur üblichen Zeit. Und Adas Essen wurde auf dem Teller kalt, weil sie erst Tommy füttern musste. Dem schmeckte der Auflauf nicht (es war Schafskäse drin) und Ada kochte ihm einen Haferbrei. Der alte Mann stocherte mit der Gabel zwischen Gemüse und Kartoffeln herum. Er murmelte etwas von Hasenfutter, aß jedoch tapfer seinen Teller leer.
Als Julia den Tisch abräumen wollte, kam Simon und sah sich misstrauisch in der Küche um.
»Sie sind weg«, sagte Julia.
»Und der Jeep?«
»Den haben sie dagelassen«, bemerkte Ada.
»Für w-ie lange?«
»Für immer.«
Julia sah Simons ungläubige Erleichterung darüber, dass ihre Großmutter – sein Boss – wieder einen fahrbaren Untersatz hatte.
Ada stand auf und kratzte die Reste des kalten Auflaufs in den Eimer mit dem Hühnerfutter. Dann setzte sie Wasser für den Abwasch auf.
»Ich mach das«, sagte Simon, der ein sichtlich schlechtes Gewissen hatte.
»Nein, ich wasche ab«, warf Julia ein. »Ich habe das Chaos schließlich auch verursacht.«
»Einigt euch«, brummte Ada.
Simon stellte sich an die Spüle und sortierte Teller und Töpfe nach dem Grad ihrer Verschmutzung. Seinem Gesicht nach zu urteilen, gehörte Abwaschen nicht zu den Arbeiten, die er gerne erledigte. Doch wie immer tat er, was getan werden musste.
Julia trocknete die Gläser und ein paar Teller ab, dann brachte sie den Eimer mit dem Hühnerfutter nach draußen. Als sie zurückkam, war der schmutzige Geschirrberg verschwunden. Simon ließ seine Hand über den Boden der Spüle gleiten, um nach den letzten Besteckteilen zu fischen. Das Spülwasser war undurchsichtig grau und auf der Oberfläche schwammen gelbe Fettaugen. Er ließ es ablaufen und es verschwand mit einem gurgelnden Geräusch im Abfluss. Aufatmend rieb Simon seine Hände an der Hose trocken.
»Danke«, sagte Julia.
»Danke wofür?«, fragte er.
»Für alles.«
Simon zog sich in seinen Wohnwagen zurück. Als auch Julia das Haus verlassen und schlafen gehen wollte, klingelte plötzlich das Telefon.
»Deine Mutter«, sagte Ada und reichte Julia das Handy.
»Hallo Ma.«
»Hallo, mein Schatz, wie geht es dir?«
»Bestens.« Ich bin gestern mit Grannys Auto gefahren und es ist uns unter dem Hintern weggebrannt. »Wir waren heute in Elko einkaufen. Ich habe gekocht. Papas berühmten Gemüseauflauf. War nicht so der Renner.« Sie hörte ihre Mutter am anderen Ende der Leitung lachen. »Was ist mit dir, Ma? Geht es dir gut bei Kate?«
»Ja, es ist herrlich hier. Heute waren wir am Strand. Kate kümmert sich die ganze Zeit rührend um mich. Schade, dass du nicht hier bist. Es würde dir gefallen. Sie hat ein schickes, kleines Haus mit allem Komfort.«
Julia ließ ihren Blick durch die Küche ihrer Großeltern schweifen. Über den fleckigen, schadhaften Fußboden, die mit Klebeband geflickten Polster der Küchenstühle, die Decke, von der die Isolation herunterhing. Für einen winzigen Moment hätte sie gerne mit ihrer Mutter getauscht.
»Bereust du es schon, dageblieben zu sein?«, fragte Hanna, als ob sie Julias Gedanken hören konnte.
»Nein, überhaupt nicht. Ich bin gerne hier.«
»Na dann. Grüß Ada und Boyd von mir. Und Simon natürlich.«
»Mach ich.«
»Bye, Julia.«
»Bye, Ma.« Sie steckte das Handy wieder ins Ladegerät und setzte sich an den Küchentisch.
Ada putzte Tommy die Zähne, eine Prozedur, die jedes Mal mit viel Gezeter verbunden war. Der Großvater holte sich wie jeden Abend ein Stück Schokolade aus dem Kühlschrank und setzte sich noch einen Moment zu Julia.
»Hast du mit deiner Mutter telefoniert?«, fragte er.
Sie nickte.
»Wie geht es ihr?«
Sie zog ein Blatt Papier heran und schrieb: Gut. Sie hat Spaß mit ihrer Freundin.
»Und was ist mit dir? Hast du Spaß?«
Julia schrieb: Das brennende Auto war kein Spaß.
»Es gibt Schlimmeres.«
Simon konnte nichts dafür.
Boyd sah seine Enkeltochter aufmerksam an. »Du magst unseren Cowboy, nicht wahr?«
Sie nickte. Weißt du, woher Simon seine Narbe hat?, schrieb sie auf den Zettel. Weißt du, ob seine Eltern noch leben und was er gemacht hat, bevor er auf die Ranch kam?
Der alte Mann las, dann sah er Julia an und schüttelte den Kopf. »Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten. Simon redet nicht über diese Dinge. Wenn du mehr über ihn wissen willst, musst du ihn schon selbst fragen. Bestimmt hat er Antworten für dich. Ich weiß, Simon mag dich. Ich erkenne es an seinen Augen, wenn er dich ansieht.«
Als der alte Mann das sagte, musste Julia an ihren Vater denken. Boyd hatte dieselbe Art, anderen Mut zu machen, die sie an ihrem Vater so geliebt hatte.
Julia umarmte ihren Großvater und er klopfte ihr liebevoll auf die Schulter. Gute Nacht, Grandpa, schrieb sie.
»Schlaf gut, meine Kleine«, sagte der Alte.